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Unmöglichkeit: Praktische Unmöglichkeit, § 275 II BGB
Was versteht man unter praktischer Unmöglichkeit?
Stell dir vor, du hast deinen Ehering bei einer Kreuzfahrt ins Meer fallen lassen. Dein Ehepartner wird nicht erfreut sein. Theoretisch könnte man ihn bergen – aber würdest du wirklich ein Spezialteam mit Unterwasserdrohnen und Tauchern engagieren, das mehrere Millionen Euro kostet, um einen Ring im Wert von 1.000 Euro zu finden? Genau hier kommt die praktische Unmöglichkeit ins Spiel.
Die praktische Unmöglichkeit, auch faktische Unmöglichkeit genannt, ist in § 275 Abs. 2 BGB geregelt. Sie liegt vor, wenn der benötigte Aufwand zur Erbringung einer Leistung in einem groben Missverhältnis zum Leistungsinteresse des Gläubigers steht. Anders als bei der objektiven Unmöglichkeit, bei der eine Leistung schlicht nicht erbracht werden kann, wäre die Leistung bei der praktischen Unmöglichkeit theoretisch noch möglich – aber nur mit einem völlig unverhältnismäßigen Aufwand.
Ein klassisches Beispiel ist der ins Meer gefallene Ring: Theoretisch könnte der Schuldner den Ring orten und bergen lassen. Wenn jedoch die Kosten für Ortung und Bergung den Verkehrswert des Rings bei weitem übersteigen, steht der erforderliche Aufwand in einem groben Missverhältnis zum Interesse des Gläubigers. Der Schuldner kann sich dann auf die praktische Unmöglichkeit berufen und ist von seiner Leistungspflicht befreit.
Wichtig ist, dass nicht jedes Missverhältnis ausreicht – es muss ein grobes Missverhältnis sein. Die Unverhältnismäßigkeit muss also deutlich und offensichtlich sein. Wenn du beispielsweise einen maßgeschneiderten Anzug bestellt hast und der Schneider müsste nur 20% mehr Aufwand betreiben als üblich, um ihn fertigzustellen, wäre das noch kein Fall der praktischen Unmöglichkeit.
Bei der praktischen Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 2 BGB geht es also um Fälle, in denen die Leistung zwar theoretisch möglich, aber völlig unsinnig wäre, weil der Aufwand in keinem vernünftigen Verhältnis zum Interesse des Gläubigers steht.
Praktische Unmöglichkeit / Faktische Unmöglichkeit, § 275 II BGB: Benötigter Aufwand in grobem Missverhältnis zum Leistungsinteresse des Gläubigers; z.B. Ring fällt ins Meer, Ortung und Bergung viel teurer als Verkehrswert des Rings
Welche Rechtsfolge hat die praktische Unmöglichkeit? Entfällt die Leistungspflicht wie bei der echten Unmöglichkeit?
Bei der praktischen Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 2 BGB ist die Rechtsfolge anders gestaltet als bei der echten Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB. Der zentrale Unterschied liegt darin, dass die Leistungspflicht nicht automatisch entfällt. Das Gesetz formuliert dies sehr präzise, indem es sagt, der Schuldner "kann die Leistung verweigern", wie es in § 275 Abs. 2 BGB heißt. Diese Formulierung macht deutlich, dass die Leistungspflicht grundsätzlich bestehen bleibt, wenn der Schuldner untätig bleibt.
Stattdessen gewährt das Gesetz dem Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht. Dieses Recht ist als Einrede ausgestaltet, was bedeutet, dass der Schuldner es aktiv geltend machen muss. Wenn du als Schuldner dich auf die praktische Unmöglichkeit berufen möchtest, musst du also tätig werden und dich auf dieses Recht berufen. Schweigst du, bleibt deine Leistungspflicht bestehen.
Stell dir vor, du hast als Handwerker versprochen, eine antike Vase zu reparieren. Während der Arbeit stellst du fest, dass die Reparatur technisch zwar möglich ist, aber das Hundertfache des Vasenwerts kosten würde, weil in diesem Fall nur ein ganz besonders aufwändiges Verfahren Erfolg verspricht. In diesem Fall musst du gegenüber deinem Auftraggeber ausdrücklich erklären, dass du die Leistung wegen unverhältnismäßigen Aufwands verweigerst. Tust du das nicht, bleibst du zur Reparatur verpflichtet.
Es gibt allerdings eine wichtige Einschränkung: Aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses kann sich etwas anderes ergeben. Das bedeutet, dass das Leistungsverweigerungsrecht unter bestimmten Umständen ausgeschlossen sein kann. Ein typisches Beispiel ist, wenn der Schuldner den Vertrag in Kenntnis der erschwerenden Umstände abgeschlossen hat. Wenn du also als Restaurator bereits beim Vertragsschluss wusstest, dass die Reparatur der Vase extrem aufwendig sein würde, kannst du dich später nicht mehr auf die praktische Unmöglichkeit berufen.
Bei der praktischen Unmöglichkeit entfällt die Leistungspflicht also nicht automatisch, sondern der Schuldner erhält ein Leistungsverweigerungsrecht, das er aktiv als Einrede geltend machen muss.
Rechtsfolge
- Leistungspflicht entfällt nicht kraft Gesetzes („kann die Leistung verweigern“, § 275 II BGB)
- Aber Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners: Einrede (muss geltend gemacht werden)
- Aus Inhalt des Schuldverhältnisses kann sich anderes ergeben, z.B. wegen Abschluss in Kenntnis der erschwerenden Umstände
Liegt praktische Unmöglichkeit auch vor, wenn das Missverhältnis nicht zum Leistungsinteresse des Gläubigers, sondern zum Gegenleistungsanspruch des Schuldners besteht?
Stell dir vor, du hast als Ölhändler einen langfristigen Liefervertrag für Rohöl zu einem festen Preis abgeschlossen. Plötzlich kommt es zu einer Knappheit, explodieren die Weltmarktpreise und du müsstest das Öl nun für das Zehnfache einkaufen, um es zum vereinbarten Preis zu liefern. Ist das ein Fall praktischer Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 2 BGB? Diese Frage führt uns zu einer wichtigen Abgrenzung im Unmöglichkeitsrecht.
Bei der praktischen Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 2 BGB geht es um ein Missverhältnis zwischen dem Leistungsaufwand des Schuldners und dem Leistungsinteresse des Gläubigers. Davon zu unterscheiden ist jedoch die sogenannte Äquivalenzstörung oder auch "wirtschaftliche Unmöglichkeit" genannt. Diese liegt vor, wenn die Leistung für den Schuldner wegen eines Missverhältnisses zum Gegenleistungsanspruch nicht zumutbar ist.
In unserem Beispiel mit dem Rohöl besteht das Problem nicht darin, dass die Lieferung des Öls technisch schwierig oder unverhältnismäßig aufwendig wäre. Das Öl ist auf dem Markt verfügbar und kann geliefert werden. Das Problem liegt vielmehr darin, dass der vereinbarte Verkaufspreis in einem krassen Missverhältnis zu den gestiegenen Beschaffungskosten steht. Es geht also um das Schuldnerinteresse an einer angemessenen Vergütung, nicht um das Gläubigerinteresse an der Leistung.
Solche Fälle der Äquivalenzstörung fallen nicht unter § 275 Abs. 2 BGB. Stattdessen ist hier die Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB der richtige Lösungsweg. Diese Vorschrift ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen eine Anpassung des Vertrags oder sogar ein Rücktrittsrecht, wenn sich wesentliche Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, schwerwiegend verändert haben.
Wenn du also als Ölhändler mit drastisch gestiegenen Einkaufspreisen konfrontiert bist, kannst du dich nicht auf praktische Unmöglichkeit berufen, sondern müsstest prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Störung der Geschäftsgrundlage vorliegen. Kurz gesagt: Ein bloßes wirtschaftliches Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung führt nicht zur Unmöglichkeit, sondern kann allenfalls eine Vertragsanpassung nach § 313 BGB rechtfertigen.
- Äquivalenzstörung / „wirtschaftliche Unmöglichkeit“: Leistung wegen Missverhältnis zum Gegenleistungsanspruch (Schuldnerinteresse) nicht zumutbar; z.B. Rohöl wird viel teurer als vereinbarter Verkaufspreis ⇨ Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB
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