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Vertretenmüssen, §§ 276-278 BGB

VertretenmüssenVerantwortlichkeitBeweislastumkehrVorsatzFahrlässigkeitEigenübliche SorgfaltHaftungserleichterung
Aktualisiert vor etwa 12 Stunden

Was versteht man unter Vertretenmüssen?

Das Vertretenmüssen ist ein zentraler Begriff im Schuldrecht und regelt die Verantwortlichkeit des Schuldners für eine Pflichtverletzung. Es geht dabei um die Frage, wann der Schuldner für ein Fehlverhalten einstehen muss. Die Regelungen zum Vertretenmüssen finden sich in den §§ 276 bis 278 BGB.

Beginnen wir mit einer kurzen Einführung: Stell dir vor, du beauftragst einen Handwerker damit, deine Heizung zu reparieren. Wenn der Handwerker nun grob fahrlässig vorgeht und die Heizung dadurch kaputt geht, muss er dafür aufkommen. Denn der Handwerker muss für sein Fehlverhalten einstehen - er hat es zu vertreten. Das Vertretenmüssen regelt also, wann jemand für ein Verschulden haftet.

Dabei ist wichtig: Das Vertretenmüssen ist weiter gefasst als der Begriff des Verschuldens. Denn Verschulden umfasst nur Vorsatz und Fahrlässigkeit. Das Vertretenmüssen geht darüber hinaus. Nach § 276 Abs. 1 S. 1 BGB muss der Schuldner nämlich zwar grundsätzlich für Vorsatz und Fahrlässigkeit einstehen. Es besteht aber eine strengere oder mildere Haftung, wenn eine Vereinbarung oder ein Gesetz dies vorsieht. Das Vertretenmüssen ist also der Oberbegriff, der alle Fälle der Verantwortlichkeit umfasst - egal ob Vorsatz, Fahrlässigkeit oder eine strengere oder mildere Haftung nach Gesetz oder Vertrag.

Merke

Vertretenmüssen, §§ 276-278 BGB: Verantwortlichkeit des Schuldners für die Pflichtverletzung

  • Verschulden: Verschulden umfasst nur Vorsatz und Fahrlässigkeit, Vertretenmüssen umfasst gem. § 276 I 1 BGB auch strengere und mildere Haftung aus Vereinbarung oder Gesetz

Wer muss nachweisen, ob der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat?

Wenn es um die Frage geht, wer nachweisen muss, ob der Schuldner für eine Pflichtverletzung verantwortlich ist, kommt eine Beweislastumkehr ins Spiel, die in § 280 Abs. 1 S. 2 BGB geregelt ist. Das Gesetz stellt durch seine doppelt negative Formulierung eine Vermutung auf für das Vertretenmüssen des Schuldners. Mit anderen Worten: Wer danach Ersatz für einen Schaden fordert, muss zwar die Pflichtverletzung beweise, aber nicht das Vertretenmüssen. Vielmehr wird angenommen, dass der Schuldner verantwortlich ist, es sei denn, er kann das Gegenteil nachweisen.

Hier kann sich der Schuldner jedoch exkulpieren, das bedeutet, er kann sich durch einen Entlastungsbeweis, der in § 292 Abs. 1 ZPO geregelt ist, entlasten. Dabei muss er nachweisen, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass er zeigt, dass der Schaden durch höhere Gewalt verursacht wurde oder dass er alle angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, um die Pflichtverletzung zu verhindern.

In der universitären Ausbildung sollte der Sachverhalt regelmäßig genug Informationen bieten, um das Vertretenmüssen positiv feststellen zu können. Daher ist es empfehlenswert, dies zumindest in Kürze darzulegen. Die gesetzliche Vermutung des Vertretenmüssens kann zusätzlich eingangs immer kurz erwähnt werden, um die eigene Argumentation zu stützen.

Zentral ist also, dass die gesetzliche Vermutung des Vertretenmüssens zunächst zugunsten des Geschädigten wirkt, der Schuldner aber die Möglichkeit zur Entlastung hat.

Merke

Beweislastumkehr, § 280 I 2 BGB: Vertretenmüssen wird durch doppelt negative Formulierung des § 280 I 2 BGB vermutet zugunsten dessen, der Schadenersatz fordert („gilt nicht, wenn […] nicht zu vertreten hat“)

  • Schuldner kann sich aber exkulpieren durch Entlastungsbeweis, § 292 1 ZPO
  • Der Sachverhalt bietet regelmäßig genug Information, um das Vertretenmüssen positiv feststellen zu können (was dann auch mindestens in Kürze zu empfehlen ist)
  • Gesetzliche Vermutung des Vertretenmüssens eingangs immer kurz erwähnen zur Stützung der Argumentation
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In welchen Fällen hat der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten?

Das Vertretenmüssen umfasst das eigene Verschulden des Schuldners, ist in in manchen Fällen aber auch verschuldensunabhängig. Außerdem kann der Schuldner ein zugerechnetes Verhalten anderer zu vertreten haben.

Beim eigenen Verschulden des Schuldners kommt es darauf an, ob er vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. Beginnen wir mit dem Vorsatz gemäß § 276 Abs. 1 S. 1 BGB. Vorsatz liegt vor, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung wissentlich und willentlich begeht, also die Elemente Wissen und Wollen vorliegen. Dabei reicht bereits dolus eventualis, also bedingter Vorsatz, das billigende Inkaufnehmen der möglichen Pflichtverletzung. Ein Beispiel wäre, wenn du deinen Vermieter über einen Wasserschaden in der Wohnung nicht informierst, um dir Ärger zu ersparen, obwohl du weißt, dass dies deine Pflicht wäre.

Eine schuldhafte Pflichtverletzung kann aber auch auf Fahrlässigkeit beruhen, die in § 276 Abs. 2 BGB legaldefiniert ist. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Dabei ist jede Fahrlässigkeit vom leichten bis zum groben Verstoß umfasst. Eine Ausnahme gilt nur, wenn vertragliche oder gesetzliche Regelungen die Haftung nach § 276 Abs. 1 S. 1 BGB mildern oder verschärfen, wie etwa bei der Haftung für eigenübliche Sorgfalt nach § 277 BGB. Der Maßstab für das Beurteilen, ob Fahrlässigkeit vorliegt, ist anders als im Strafrecht rein objektiv und orientiert sich an einem durchschnittlichen Angehörigen desselben Alters und Verkehrskreises. Für Kinder (soweit sie gemäß § 828 BGB überhaupt verschuldensfähig sind), Ältere und Behinderte gelten jedoch typischerweise geminderte Anforderungen entsprechend ihrer geringeren Leistungsfähigkeit.

In bestimmten Fällen haftet der Schuldner sogar verschuldensunabhängig, wenn das eine strengere Haftung bestimmt ist. Das ist zum Beispiel der Fall beim Schuldnerverzug gemäß § 287 Abs. 2 BGB oder wenn der Schuldner eine Garantie für die Beschaffenheit einer Sache übernommen hat. Letzteres gilt selbst dann, wenn er von einem Mangel keine Kenntnis hatte. Ein Indiz dafür ist beispielsweis, dass er über entsprechende Fachkunde verfügt. Bei Geldschulden besteht sogar eine unbeschränkte Vermögenshaftung. Mangelnde Zahlungskraft ist hier keine Unmöglichkeit, sondern der Schuldner hat verschuldensunabhängig für jedes Leistungshindernis aus Zahlungsunfähigkeit einzustehen.

Außerdem ist nach den §§ 278, 31 BGB dem Schuldner in manchen Fällen auch das Verhalten anderer Personen dem Schuldner zuzurechnen. Das sind Vorsatz und Fahrlässigkeit des gesetzlichen Vertreters, des Erfüllungsgehilfen sowie der Organe von Gesellschaften.

Entscheidend für das Vertretenmüssen ist somit, ob ein Verschulden des Schuldners oder anderer zurechenbarer Personen vorliegt oder ob ausnahmsweise eine verschuldensunabhängige Haftung besteht.

Merke

Verschulden, § 276 I 1 BGB: Eigenes Verschulden des Schuldners

  • Vorsatz: Wissen und Wollen der Pflichtverletzung; dolus eventualis (bedingter Vorsatz) genügt, d.h. billigendes Inkaufnehmen der möglichen Pflichtverletzung
  • Fahrlässigkeit, § 276 II BGB: Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt;
    • Jede Fahrlässigkeit umfasst (leichte bis grobe)
      • Ausnahme vertragliche oder gesetzliche Haftungsmilderung oder Haftungsverschärfung, § 276 I 1 BGB: z.B. eigenübliche Sorgfalt, § 277 BGB
    • Maßstab rein objektiv, d.h. Fähigkeiten eines durchschnittlichen Angehörigen desselben Alters und Verkehrskreises (≠ Strafrecht), jedoch typischerweise geminderte Leistungsfähigkeit bei Kindern (soweit gem. § 828 BGB überhaupt verschuldensfähig), alte Leute, Behinderte

Verschuldensunabhängig wenn strengere Haftung, § 276 I 1 BGB

  • Schuldnerverzug, § 287 2 BGB
  • Garantieübernahme z.B. für Beschaffenheit einer Sache
    • Selbst ohne Kenntnis darüber ist Mangelhaftigkeit zu vertreten: Indiz z.B. Fachkunde
  • Bei Geldschulden unbeschränkte Vermögenshaftung: Keine Unmöglichkeit wegen mangelnder Zahlungskraft
    • Verschuldensunabhängige Einstandspflicht für jedes Leistungshindernis wegen mangelnder Zahlungskraft: Immer zu vertreten

Zugerechnetes Verhalten anderer, §§ 278, 31 BGB: Vorsatz und Fahrlässigkeit des gesetzlichen Vertreters, Erfüllungsgehilfen oder der Organe von Gesellschaften

Gelten die §§ 276-278 nur für Schuldner oder auch für Gläubiger?

Die §§ 276-278 BGB regeln das sogenannte Vertretenmüssen, also wann jemand für ein Verschulden einstehen muss. Dabei geht es zunächst einmal um die Haftung des Schuldners gegenüber dem Gläubiger. Doch die Vorschriften gelten nicht nur einseitig für den Schuldner, sondern analog auch für den Gläubiger.

Dies wird zum Beispiel im Rahmen des § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 BGB virulent. Es betrifft die Frage, ob der Gläubiger für einen Umstand, auf Grund dessen er nicht zu leisten braucht, verantwortlich ist. Im Rahmen dieser Abwägung sind die Grundsätze der §§ 276-278 BGB zu berücksichtigen. Daneben sind aber auch die Risikosphären beider Parteien zu berücksichtigen.

Die Vorschriften zum Vertretenmüssen in den §§ 276-278 BGB gelten also nicht nur direkt für den Schuldner, sondern analog auch für den Gläubiger.

Merke

Für Gläubiger gelten analog §§ 276-278 BGB: z.B. im Rahmen des § 326 II 1 Alt. 1 BGB (Abwägung dort aber auch nach Risikosphären)

Was bedeutet es, wenn eine Vorschrift besagt, jemand habe „nur für diejenige Sorgfalt einzustehen, welche er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt“?

Wenn eine Vorschrift besagt, dass jemand "nur für diejenige Sorgfalt einzustehen hat, welche er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt", dann ist damit die sogenannte eigenübliche Sorgfalt oder "diligentia quam in suis" gemeint. Dieser Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt so viel wie "die Sorgfalt, die man in den eigenen Dingen anzuwenden pflegt". Gemeint ist damit die Sorgfalt, die der Handelnde in seinem gewohnheitsmäßigen Verhalten üblicherweise an den Tag legt. Die Regelung der eigenüblichen Sorgfalt findet sich in § 277 BGB.

Eine Ausnahme gilt jedoch im Straßenverkehr: Hier kann man sich nicht auf eine geringere eigenübliche Sorgfalt berufen, da im Straßenverkehr kein Raum für individuelle Sorglosigkeit ist.

Gem. § 277 BGB gilt, dass auch wer nur für diejenige Sorgfalt einzustehen hat, welche er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt, für grobe Fahrlässigkeit stets verantwortlich ist.

In den meisten Fällen führt die Regelung der eigenüblichen Sorgfalt zu einer Haftungserleichterung. Das bedeutet, der Schuldner haftet nur für den Fahrlässigkeitsgrad, den er typischerweise an den Tag legt. Ein Beispiel ist die Haftung von Ehegatten untereinander gemäß § 1359 BGB oder von Eltern gegenüber ihren Kindern nach § 1664 BGB.

Es kann aber theoretisch auch zu einer Haftungsverschärfung kommen, wenn jemand in seinen eigenen Angelegenheiten sehr sorgfältig ist. Dann muss er sich an diesem hohen Sorgfaltsmaßstab messen lassen und haftet entsprechend strenger. Die eigenübliche Sorgfalt ist also ein zweischneidiges Schwert - sie kann Haftung mildern, aber auch verschärfen. Entscheidend ist jeweils das gewohnheitsmäßige Sorgfaltsverhalten des Handelnden.

Merke

Eigenübliche Sorgfalt („diligentia quam in suis“), § 277 BGB: Sorgfalt, die der Handelnde in seinem gewohnheitsmäßigen Verhalten an den Tag legt

  • Gilt nicht im Straßenverkehr, da dort kein Raum für individuelle Sorglosigkeit
  • Immer Haftung für grobe Fahrlässigkeit, § 277
  • Regelmäßig Haftungserleichterung: z.B. Ehegatten untereinander gem. § 1359 BGB, Eltern ggü. ihren Kindern gem. § 1664 BGB
  • Ggf. aber sogar Haftungsverschärfung: Wenn in eigenen Angelegenheiten sehr sorgfältig

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Frage 1/3

Vermieter A verursacht trotz Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt pflichtwidrig einen Schaden i.H.v. 300.000€ am Lamborghini seines Mieters B. Hat B gegen A einen Anspruch aus § 280 I BGB?

Ja, da A den Schaden pflichtwidrig verursacht hat.
A hat die Pflichtverletzung nicht zu vertreten.
Ja, da zwischen den beiden ein Schuldverhältnis vorliegt.
Nein, B geht leer aus.
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