- Zivilrecht
- Allgemeiner Teil des BGB
- Stellvertretung
Vertretungsmacht kraft Rechtsschein
Wird der Vertretene verpflichtet, wenn er einem Vertragspartner das Bestehen einer Innenvollmacht mitteilt, auch wenn diese nicht (mehr) besteht? Kann diese Mitteilung rückwirkend angefochten werden?
Stell dir vor, ein Unternehmer teilt einem Geschäftspartner mit, dass ein bestimmter Angestellter eine Vollmacht hat, für ihn Verträge abzuschließen. Später stellt sich heraus, dass diese Vollmacht gar nicht oder nicht mehr besteht. Die Frage ist nun: Wird der Unternehmer trotzdem durch die von seinem Angestellten geschlossenen Verträge verpflichtet? Und kann er sich nachträglich von den Folgen befreien?
Hier hilft ein Blick in § 171 BGB. Wird eine Innenvollmacht, die eigentlich nur zwischen Vertreter und Vertretenem wirkt, einem Dritten gegenüber mitgeteilt, entsteht ein Rechtsschein, auf den der Dritte vertrauen darf. Denn der Mitteilungsempfänger geht wegen der ausdrücklichen Erklärung des Vertretenen davon aus, dass der Vertreter tatsächlich bevollmächtigt ist. Damit gleicht die Situation der einer Außenvollmacht, bei der die Vertretungsmacht direkt dem Geschäftsgegner gegenüber erklärt wird. Aufgrund dieses geschaffenen Vertrauens bleibt der Vertretene gem. § 171 Abs. 1 BGB an das Vertretergeschäft gebunden, auch wenn die Innenvollmacht tatsächlich nicht oder nicht mehr bestand. Der Vertragspartner soll nicht benachteiligt werden, wenn er gutgläubig auf die vom Vertretenen gesetzte Kundgabe vertraut hat.
Dieser Rechtsschein bleibt gem. § 171 Abs. 2 BGB bestehen, bis die Kundgabe der Innenvollmacht widerrufen wird. Der Widerruf erfolgt durch den Vertretenen in derselben Weise wie die Kundgabe, wodurch die Vertretungsmacht ex nunc, also für die Zukunft, entfällt.
Alternativ kann die Kundmachung auch angefochten werden mit ex tunc-Wirkung auch für bereits getätigte Geschäfte, wenn ein Anfechtungsgrund besteht. Dabei stellt sich aber die Frage, ob eine Anfechtung einer Kundgabe überhaupt möglich ist. Darüber besteht Streit. Nach einer Ansicht sind solche Kundmachungen keine Willenserklärungen, sondern bloße Rechtsscheintatbestände. Das bedeutet, dass eine Anfechtung nicht in Betracht kommt, da sie den Rechtsschein nicht beseitigen kann. Die herrschende Meinung stellt die Kundmachung einer Innenvollmacht jedoch einer Außenvollmacht gleich und hält sie daher für anfechtbar. Sie ist vorzugswürdig. Das entscheidende Argument: Eine Anfechtung ist interessengerecht, weil der Geschäftspartner zumindest Schadensersatz nach § 122 BGB verlangen kann und der Vertreter ohne Vertretungsmacht nach § 179 Abs. 1 BGB haftet.
Zentral ist also, dass eine nach außen kundgemachte Innenvollmacht trotz fehlender tatsächlicher Bevollmächtigung eine Bindung des Vertretenen auslösen kann.
Nach außen kundgemachte Innenvollmacht, § 171 BGB: Innenvollmacht wird Geschäftsgegner mitgeteilt (≠ Außenvollmacht, wo zunächst keine Innenvollmacht); problematisch, wenn Innenvollmacht nicht (mehr) besteht
- Rechtsscheinstatbestand: Erklärer setzt Vertrauenstatbestand (wie bei Außenvollmacht) für gutgläubigen Adressaten in Bestand der Vollmacht
- Vertretergeschäft verpflichtet Vertretenen, § 171 I BGB: Haftung des Vertretenen aus veranlasstem Rechtsschein
- Rechtsscheinsvollmacht bleibt bestehen bis Widerruf der Kundgabe, § 171 2 BGB
- Widerruf der Kundgabe, § 171 2 BGB: Durch Vertreter ex nunc mit Wirkung für die Zukunft
- Alternativ auch Anfechtung der Kundmachung möglich: Durch Vertretenen ex tunc mit Wirkung auch für bereits getätigte Geschäfte möglich
- M.M.: Kundmachung gem. §§ 171, 172 BGB keine Willenserklärung, sondern Rechtsscheintatbestand ⇨ nicht anfechtbar, da Anfechtung Rechtsschein nicht beseitigen kann
- g.h.M.: Kundgemachte Innenvollmacht ist Außenvollmacht gleichzustellen ⇨ anfechtbar
- Interessengerecht, da Vertretener noch für Vertrauensschaden gem. § 122 BGB haftet (und Vertreter ohne Vertretungsmacht haftet gem. § 179 I BGB)
Wird der Vertretene verpflichtet, wenn der Vertreter bei Abschluss des Geschäfts eine Urkunde des Vertreters über eine nicht (mehr) bestehende Vollmacht vorlegt? Wie verhält es sich, wenn die Urkunde dem Vertreter nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig erteilt wurde?
Stell dir vor, jemand legt dir eine Vollmachtsurkunde vor, aus der sich ergibt, dass er für eine andere Person handeln darf. Du verlässt dich darauf und schließt ein Geschäft mit ihm ab. Doch später stellt sich heraus, dass die Vollmacht gar nicht mehr besteht. Kann der Vertretene trotzdem verpflichtet werden?
Dies ist in § 172 BGB geregelt. Es besteht ein Rechtsschein durch die Vollmachtsurkunde. Der Vertretene hat die Urkunde ursprünglich ausgehändigt, und der Vertreter legt sie nun vor. Daraus ergibt sich ein Vertrauenstatbestand für den Geschäftsgegner, der darauf baut, dass der Vertreter tatsächlich bevollmächtigt ist. Der Vertretene muss sich diesen Rechtsschein zurechnen lassen und wird daher durch das Vertretergeschäft verpflichtet.
Aber was ist, wenn die Urkunde nicht vorsätzlich, sondern nur fahrlässig in die Hände des Vertreters gelangt ist? Zum Beispiel, weil der Vertretene die unbeschädigte Urkunde einfach in den Papierkorb geworfen hat? Hier gibt es eine Meinungsstreitigkeit.
Eine Mindermeinung befürwortet eine analoge Anwendung des § 172 Abs. 1 BGB. Denn auch in diesem Fall habe der Vertretene durch sein Verhalten schuldhaft einen Rechtsschein gesetzt, indem er die Urkunde nicht ordnungsgemäß vernichtet hat. Diese Meinung ist jedoch abzulehnen. Das Argument dagegen ist, dass eine abhanden gekommene Willenserklärung allgemein keine Bindungswirkung entfaltet. In solchen Fällen kann der Betroffene höchstens für einen Vertrauensschaden haften.
Die herrschende Meinung hält es daher für sachgerechter, den Vertretenen nicht wie bei einer erteilten Vollmacht zu verpflichten. Er ist so schutzwürdig wie der Adressat einer abhanden gekommenen Willenserklärung. Dem Geschäftsgegner ist nur ein Ersatz des Vertrauensschadens nach § 122 BGB analog zu gewähren. Damit wird der Geschäftsgegner so gestellt, als hätte er sich gar nicht auf die Vollmachtsurkunde verlassen.
Wer eine Vollmachtsurkunde aushändigt, haftet also für den daraus erzeugten Rechtsschein, aber bei bloß fahrlässigem Abhandenkommen kommt nur ein Ersatz des Vertrauensschadens in Betracht.
Rechtsschein durch Vollmachtsurkunde, § 172 BGB: Aushändigen durch Vertretenen, Vorlegen durch Vertreter
- Rechtsscheinstatbestand: Erklärer setzt Vertrauenstatbestand durch Urkunde
- Vertretergeschäft verpflichtet Vertretenen, § 172 BGB: Haftung des Vertretenen aus veranlasstem Rechtsschein
- M.M.: Analoge Anwendung des § 172 I BGB bei fahrlässiger Ermöglichung des Vorlegens der Vollmachtsurkunde (z.B. unbeschädigt in Papierkorb), da ebenfalls schuldhaft veranlasster Rechtsschein
- Allerseits anerkannt, dass abhanden gekommene Willenserklärung keine Bindungswirkung gegen Autor entfaltet, sondern allenfalls Haftung für Vertrauensschaden
- h.M.: Schutzwürdig wie Adressat abhanden gekommener Willenserklärung ⇨ Ersatz des Vertrauensschadens analog § 122 BGB
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Welche weiteren wichtigen Rechtsscheinstatbestände kennt das Gesetz?
Das Recht kennt verschiedene Fälle, in denen eine Vertretungsmacht nicht unmittelbar durch Gesetz, Rechtsgeschäft oder Organstellung besteht, sondern sich aus einem Rechtsschein ergibt. Zwei weitere wichtige Fälle sind die Publizität des Handelsregisters nach § 15 HGB und die Vertretungsmacht von Laden- und Warenlagerangestellten nach § 56 HGB.
Die Publizität des Handelsregisters nach § 15 HGB spielt eine zentrale Rolle im Handelsrecht. Ein Beispiel wäre ein Kaufmann, der aus seiner Position als Geschäftsführer einer GmbH abberufen wurde, dessen Abberufung aber nicht ins Handelsregister eingetragen wurde. Ein Vertragspartner darf dann trotzdem darauf vertrauen, dass der ehemalige Geschäftsführer weiterhin vertretungsberechtigt ist.
Ein weiterer wichtiger Rechtsscheinstatbestand ergibt sich aus § 56 HGB, der sich auf die Vertretungsmacht von Laden- und Warenlagerangestellten bezieht. Nach dieser Vorschrift wird vermutet, dass ein Angestellter, der in einem Laden oder Warenlager tätig ist, zu Verkäufen und Empfangnahmen berechtigt ist, die in einem solchen Geschäft üblich sind. Diese gesetzliche Vermutung schützt Kunden, die darauf vertrauen dürfen, dass sie mit einem Verkäufer im Laden wirksam Verträge abschließen können. Beispiel: Ein Kunde kauft in einem Elektronikgeschäft ein Smartphone von einem Verkäufer, der dort in der Verkaufsabteilung arbeitet. Auch wenn dem Verkäufer intern eigentlich nur erlaubt wurde, Zubehör zu verkaufen, kann sich der Kunde auf § 56 HGB berufen und davon ausgehen, dass der Verkäufer zum Verkauf des Smartphones berechtigt ist.
Zentral ist also, dass das Gesetz durch diese Vorschriften den Rechtsverkehr schützt und den guten Glauben Dritter an bestimmte äußere Umstände stützt.
Wichtige Fälle
- Publizität des Handelsregisters, § 15 HGB
- Laden- und Warenlagerangestellte, § 56 HGB
In welchen Fällen bestehen ungeschriebene Rechtsscheinstatbestände? Was versteht man unter Duldungs- und Anscheinsvollmacht?
Neben den geschriebenen Rechtsscheinstatbeständen gibt es auch ungeschriebene. Manchmal entsteht der Anschein, dass jemand Vertretungsmacht hat, obwohl ihm tatsächlich keine Vollmacht erteilt wurde. Solche ungeschriebenen Rechtsscheintatbestände können bei vorwerfbarem Verhalten des Vertretenen dazu führen, dass er so behandelt wird, als hätte er dem Vertreter tatsächlich Vollmacht erteilt. Das ergibt sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB.
Damit ein solcher Rechtsscheintatbestand vorliegt, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss ein Rechtsschein bestehen, also ein Vertrauenstatbestand, aufgrund dessen der Geschäftsgegner berechtigterweise annehmen darf, dass eine Vertretungsmacht vorliegt. Zweitens muss dem Vertretenen dieses Verhalten zugerechnet werden können. Das bedeutet, dass er in irgendeiner Weise dazu beigetragen haben muss, dass dieser Rechtsschein entsteht. Drittens muss der Geschäftsgegner gutgläubig sein, also tatsächlich darauf vertrauen, dass der Vertreter bevollmächtigt ist. Das richtet sich analog § 173 BGB danach, ob er vom Fehlen der Vertretungsmacht Kenntnis hatte oder hätte haben müssen.
Besonders relevant sind hierbei die Duldungs- und die Anscheinsvollmacht, die beide durch ein wiederholtes Auftreten als Vertreter entstehen können. Ein typisches Beispiel wäre ein nicht bevollmächtigter Mitarbeiter, der regelmäßig Verträge im Namen seines Arbeitgebers abschließt und dabei den offiziellen Briefkopf der Firma nutzt.
Eine Duldungsvollmacht liegt vor, wenn der Geschäftsherr weiß, dass eine Person als sein Vertreter auftritt, und dies über eine gewisse Zeit hinweg geschehen lässt, ohne einzugreifen. Dadurch erweckt er den Anschein, dass er diese Vertretung akzeptiert.
Die Anscheinsvollmacht hingegen liegt vor, wenn der Geschäftsherr fahrlässig keine Kenntnis davon hat, dass jemand als sein Vertreter auftritt, obwohl er es bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen können. Auch hier entsteht ein schützenswertes Vertrauen des Dritten.
Eine Mindermeinung vertritt dabei die Auffassung, dass die Anscheinsvollmacht nicht zu einer primären Leistungspflicht des Vertretenen führen darf, da dies die Privatautonomie des Vertretenen einschränken würde. Sie sieht daher lediglich einen Schadensersatzanspruch aus culpa in contrahendo gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB. Sie ist abzulehnen. Dagegen wird argumentiert, dass es ein allgemeiner Rechtssatz ist, dass ein vom Vertreter veranlasster Rechtsschein mit einer echten Willenserklärung gleichgesetzt wird. Das hat der Gesetzgeber in den §§ 170 ff. BGB anerkannt.
Ungeschriebene Rechtsscheintatbestände: Nach Treu und Glauben gem. § 242 BGB, darf Vertragspartner auf Bestehen der Vollmacht schließen
- Voraussetzungen der Zurechnung
- Rechtsschein: Vertrauenstatbestand, aufgrund dessen Vertragspartner auf Bestehen der Vertretungsmacht vertrauen darf
- Zurechnung: Beitrag des Hintermannes, durch den Rechtsschein ihm zugerechnet werden kann
- Gutgläubigkeit des Geschäftsgegners, analog § 173 BGB: Tatsächliches Vertrauen auf Rechtsschein
- Insb. Anscheins- und Duldungsvollmacht bei wiederholtem Auftreten als Vertreter: z.B. wiederholt Briefkopf des Geschäftsherrn verwendet
- Duldungsvollmacht: Wiederholtes Auftreten in Kenntnis des Geschäftsherrn
- Anscheinsvollmacht: Wiederholtes Auftreten in fahrlässiger Unkenntnis des Geschäftsherrn
- M.M.: Aufgrund der Privatautonomie keine Primärverpflichtung des Vertretenen; nur Schadensersatz aus c.i.c., §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB
- Allgemeiner Rechtssatz: Veranlasster Rechtsschein gleichgesetzt mit wirklich gesetztem Erklärungstatbestand; Anerkennung durch Gesetzgeber in §§ 170 ff. BGB
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A beauftragt und bevollmächtigt den S, ihm ein Computersystem einzurichten. Ggü. Händler H erzählt er stolz, dass er den S als Vertreter gewinnen konnte. Wegen interner Differenzen widerruft A später die Vollmacht ggü. S. Dennoch kauft S danach bei H einen Computer im Namen des A. A will den Computer nicht bezahlen. Welche Aussagen sind richtig?
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